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Einführung

Die Vorstellung, daß das menschliche Gehirn im Prinzip durch einen künstlichen Rechner ersetzt werden könnte, wirkt nicht sehr plausibel. Wir alle haben ja eine recht gute Vorstellung davon, was ein künstlicher Rechner (= Computer) kann, oder vielmehr nicht kann:
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man muß ihm vorher alles haargenau erklären (d.h.: einprogrammieren) bevor er eine Aufgabe ausführen kann
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er wird nicht aus Erfahrung klug: wenn wir sein Programm nicht ändern, wird er denselben Fehler wieder und wieder machen
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er kann sich nicht selbständig weiterentwickeln, und ist in keiner Weise kreativ
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er hat keine Gefühle oder Bewußtsein
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er ist instabil und anfällig: wir alle wissen wie gerne ein Rechner ``abstürzt'', und wie anfällig er ist gegenüber eingeschleusten Computerviren sobald er mit anderen Rechnern in Kontakt tritt.
Obwohl die kommerziell vertriebenen Rechner im Laufe der Zeit immer schneller und kleiner wurden, haben sie sich erstaunlich wenig verbessert in bezug auf die angeführte Mängelliste. Ich werde in diesem Aufsatz argumentieren, daß dies gar nicht so erstaunlich ist, weil diese Mängel auf grundlegenden in der Theorie der Rechner verankerten ``Planungsfehlern'' beruhen, die wiederum tief in althergebrachten aber zum Teil fragwürdigen Vorstellungen über Maschinen und menschliche Intelligenz verwurzelt sind.

Ich werde diese Kritik anhand des wohlbekannten Turing-Tests präzisieren, den der geniale Mathematiker und Computer-Pionier Alan Turing vor fast genau 50 Jahren veröffentlicht hatte [Turing, 1950]. Er schlug vor, folgendes Kriterium dafür zu wählen, ob ein künstlicher Rechner ``intelligent'' sei:

Ein Rechner sollte dann als intelligent bezeichnet werden, wenn wir als Mensch bei einem beliebigen Frage-und-Antwort Spiel, das über eine elektronische Verbindung (zum Beispiel per email) durchgeführt wird, nicht unterscheiden können, ob am anderen Ende der Leitung dieser Rechner oder ein anderer Mensch sitzt.
Dieser Test ist gedanklich sehr attraktiv, und er hat unsere Vorstellung von ``maschineller Intelligenz'' nachhaltig geprägt. Erst wenn man etwas länger über diesen Test nachdenkt, fällt einem auf, daß er stark beeinflußt ist von einem Intelligenzbegriff, dessen Akzeptanz heute im Schwinden begriffen ist. Der Turing-Test beruht auf der Vorstellung von Intelligenz als der Fähigkeit, bei einer Unterhaltung mit Menschen, die sich selbst für intelligent halten, mitreden zu können, ohne dabei unangenehm aufzufallen. Ein offensichtlicher Defekt dieses Intelligenzbegriffs ist, daß er jemanden, der quasi als Schauspieler typische Sprachspiele von selbsternannten intelligenten Menschen mitspielen kann, ohne notwendigerweise zu verstehen worüber er redet, als intelligent bezeichnen würde. Weitere Defekte des im Turing-Test formalisierten Intelligenzbegriffs sind dessen Festlegung auf verbale Kommunikation, sowie die Vernachlässigung von anderen wichtigen Aspekten der Intelligenz, wie zum Beispiel der ``praktischen Intelligenz'', oder allgemeiner der Fähigkeit ``sich zu helfen zu wissen'', also der Fähigkeit unvorhergesehene Probleme in kreativer Weise zu lösen.

Bedauerlicherweise hat die dem Turing-Test zugrunde liegende einseitige Vorstellung von Intelligenz nicht nur viele Generationen von Schülern und Studenten, sondern auch unsere traditionellen Rechner geprägt. Der Zusammenhang zwischen der im Turing-Test formalisierten Vorstellung von Intelligenz und den Unzulänglichkeiten unserer gegenwärtigen Rechner liegt auf der Hand: man kann Rechner jahrzehntelang weiterentwickeln und deren Abschneiden im Turing-Test verbessern, ohne daß die so enstehenden Rechner notwendigerweise große Fortschritte hinsichtlich der am Anfang angeführten Mängelliste aufweisen würden. In diesem Sinn habe ich am Beginn dieses Artikels etwas überspitzt argumentiert, daß man die angeführten Mängel unserer gegenwärtigen Rechner als Planungsfehler auffassen kann.[Kommentar]

Als Gegenpol möchte ich hier einen alternativen Test für die ``Intelligenz'' eines Rechners vorschlagen:

Die Intelligenz eines Rechners wird daran gemessen wie lange er unter wechselnden und teilweise unvorhersehbaren und widrigen Umständen ``überlebt''.
Dabei kann man ``überleben'' eines Rechners in geeigneter Kontext-bezogener Weise definieren (zum Beispiel als Aufrechterhalten seiner üblichen Rechnerleistung ohne Absturz.) Je länger die Überlebensdauer eines Rechners ist und umso widriger und stärker schwankend die Umstände waren, denen der Rechner getrotzt hat, umso ``intelligenter'' würde ich einen solchen Rechner nennen. Dabei kann man bei den ``unvorhersehbaren und teilweise widrigen Umständen'', denen der Rechner ausgesetzt wird, an das Einspielen von fehlerbehafteten neuen Programmen, Unmutsäußerungen des menschlichen Benutzers oder anderer Maschinen, menschliche Bedienungsfehler, sich einschleichende Computerviren, oder sogar an Stromausfall, Wasserrohrbruch, oder Erdbeben denken.

Gemäß diesem Kriterium sind selbst primitive Lebewesen wie Käfer oder Stubenfliegen in gewisser Weise intelligenter als unsere gegenwärtigen Rechner, weil sie vielen physischen Bedrohungen geschickt ausweichen können. Diese Folgerung ist kein Widerspruch, sondern sie macht die Schmalspurigkeit des im Turing-Test formalisierten Intelligenzbegriffs besonders deutlich: Intelligenz bedeutet ja auch Gefahren rechtzeitig zu erkennen, sich mit beschränkten Mitteln in der Not zu helfen wissen.

Offensichtlich ist das ``timing'', oder genauer gesagt: die Rechengeschwindigkeit, ein wesentlicher Bestandteil des alternativen Intelligenzbegriffs, denn es nützt nichts, eine perfekte Lösung in einer Minute Rechenzeit zu finden, wenn eine das Überleben ermöglichende Reaktion in ``Echtzeit'', also zum Beispiel innerhalb 1/10 Sekunde erforderlich ist. Das bedeutet, daß die Gültigkeit der Turing Maschine[Kommentar] als geeignetes mathematisches Modell für intelligente Rechner in Frage gestellt wird. Die Turing Maschine ist ein Modell für einen sequentiellen Rechner, in dem in jedem Zeittakt jeweils nur eine Rechenoperation ausgeführt werden kann. Daher können nur einige extrem einfache Rechenaufgaben auf einer Turing Maschine in ``Echtzeit'', also sagen wir in höchstens 10 Zeittakten, ausgeführt werden.[Kommentar] Dagegen sind biologische Nervensysteme dadurch ausgezeichnet, daß sie einige spezielle Aufgaben der Informationsverarbeitung, deren schnelle Lösung ``überlebenswichtig'' ist, in Echtzeit ausführen können. Dies erreichen sie dadurch, daß sie solche Aufgaben an eine große Anzahl von ``Prozessoren'' verteilen, die ``parallel'' an der Problemlösung arbeiten. Dabei hilft ihnen die Architektur ihrer Schaltkreise, deren Grundbausteine - die Neuronen - Inputs von 5000 - 10000 anderen Neuronen bekommen, und ihren Output an eine etwa gleichgroße Zahl anderer Neuronen parallel (d.h. gleichzeitig) übermitteln können. Bei der Konstruktion einer gemäß dem alternativen Intelligenz-Kriterium ``intelligenten'' Maschine muß man sich entscheiden, welche komplexen aber ``überlebenswichtigen'' Berechnungen auf ihr unbedingt in Echtzeit durchführbar sein müssen. Da auf einer Turing Maschine keinerlei komplexe Berechnungen in Echtzeit durchgeführt werden können, ist sie als mathematisches Modell für derart ``intelligente'' Maschinen ungeeignet.

Ich werde im Abschnitt 2 dieses Artikels einige Forschungsansätze vorstellen, die zeigen, daß es durchaus schon Ideen und Bausteine gibt für einen neuartigen Typ von Rechnern, die gemäß dem alternativen Intelligenz-Kriterium als ``intelligent'' bezeichnet werden könnten. Dies läßt uns erahnen wieviel mehr ein Rechner im Prinzip kann - verglichen mit dem traditionellen Begriff eines Rechners. Gleichzeitig werden wir Indizien für eine möglicherweise überraschende Entwicklung sehen: Während man früher das menschliche Gehirn als eine Variante von Idealisierungen vorhandener Rechner (also zum Beispiel von Turing Maschinen) zu verstehen suchte, hat sich mittlerweile der Spieß umgedreht: viele bahnbrechende neue Ideen in der Informatik haben ihre Wurzel in Erkenntnissen und Vermutungen über die Arbeitsweise biologischer Nervensysteme.

Wenn ich im 3. Abschnitt dieses Artikels zurückkomme auf die Frage ``Das menschliche Gehirn - nur ein Rechner?'' werden wir sehen, daß das eigentlich Problematische an dieser Vermutung das Wörtchen ``nur'' ist, weil ein Rechner, der alles wirklich ``Rechnermögliche'' ausschöpft, ein ungleich anderes Wesen ist als die uns bisher geläufigen Rechner. Gleichzeitig werden wir sehen, daß eine positive Antwort auf die diesem Aufsatz zugrundeliegende Frage nicht aufgefaßt werden könnte als ein Sieg der Natur- und Ingenieurwissenschaften über die Geisteswissenschaften, der Maschine über die belebte Materie. Vielmehr wird sichtbar, daß die Entwicklung wirklich ``intelligenter'' Maschinen dazu führt, daß die Grenzen zwischen beiden Bereichen verwischt werden.


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Heike Graf, 9/28/1999