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Konklusion

Ich habe die Frage nach der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn bisher ausgeklammert. Dies geschah zum einen deshalb, weil ich kein Experte für dieses Gebiet bin, zum anderen, weil Gespräche mit Neurophysiologen und Neurobiologen deutlich machen, daß über die Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn sehr viel weniger gesichertes Wissen vorliegt, als in der typischen Populär-Literatur suggeriert wird. In manchen populärwissenschaftlichen Artikeln liest man, daß es schon jetzt möglich wäre, mittels geeigneter Apparate ``Gedanken zu lesen'' im menschlichen Gehirn, während andere Artikel das bestreiten. Darüberhinaus vermitteln zahlreiche Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften den Eindruck, daß die wesentlichen Rätsel bezüglich der Informationsverarbeitung in biologischen Nervensystemen bereits gelöst seien. Leider gibt es zu fast allen solchen Veröffentlichungen andere, genauso seriöse Veröffentlichungen, die behaupten, dieselben Rätsel mit vollkommen anderen Antworten gelöst zu haben, oder daß diese Rätsel noch ungelöst wären.

Dieser verwirrende Zustand wird verständlich wenn man sich die experimentellen Ergebnisse genauer anschaut, die diesen Artikeln zugrunde liegen. Wir erleben gegenwärtig gewaltige Fortschritte bei nichtinvasiven Methoden zur Messung von Gehirnaktivitäten, wie zum Beispiel EEG, PET, MRI (für allgemeinverständliche Beschreibungen dieser Techniken siehe [Schmidt, 1993,Purves et al., 1997]). Mit diesen Methoden erhält man raum-zeitliche Muster von Gehirnaktivitäten, wobei aber die räumliche Auflösung so gering ist, daß man nur Informationen über das durchschnittliche Aktivitätsniveau von neuronalen Schaltkreisen bestehend aus Milliarden von Neuronen erhält, aber nicht erfährt wie dort im Einzelnen Informationen kodiert und verarbeitet werden. Man kann aber mittels solcher Methoden zum Beispiel feststellen, ob die Gehirnregion, die für die Steuerung der rechten Hand zuständig ist, überdurchschnittlich aktiviert ist. Da die für die Steuerung der rechten Hand zuständige Gehirnregion schon dadurch aktiviert werden kann, daß die betreffenden Person nur intensiv daran denkt die rechte Hand zu bewegen, kann man diesen Gedanken in der Regel im EEG der betreffenden Person ablesen. Es ist aber nicht vorstellbar, daß man mit solchen Apparaten abstraktere Gedanken eines Menschen lesen kann, also zum Beispiel an welche Zahl eine Person gerade denkt; oder welche Partei sie am kommenden Wahlsonntag wählen möchte.

Mittels invasiver Methoden erhält man bei Tieren zusätzlich Informationen über das genaue Feuerverhalten einer kleineren Anzahl von Neuronen - siehe zum Beispiel Abbildung 5. Aber hier hat man das Problem, daß unbekannt bleibt, welchen Input diese Neuronen gerade von ihren bis zu 10 000 ``Vorgänger''-Neuronen bekommen, und welche intrazellulären biochemischen Substanzen ihr gegenwärtiges Verhalten beeinflußen. Daher erhält man bei diesen Experimenten nur in recht indirekter Weise Informationen über die von diesen Neuronen ausgeführten Berechnungen. In wirbellosen Tieren gelingt es gelegentlich, einzelne Neuronen zu identifizieren, die eine Schlüsselrolle bei der internen Kodierung von sensorischem Input (also zum Beispiel von dem, was das Auge sieht) spielen. In einzelnen Fällen, wie zum Beispiel bei den beiden H1-Neuronen in der Fliege, konnte sogar der ``Code'' geknackt werden, mit dem diese Information im Feuerverhalten dieser Neuronen kodiert ist [Rieke et al., 1997,Recce, 1999] .

Leider ist es bisher nicht einmal bei relativ einfachen Tieren gelungen, den ``Neuronalen Kode'' zu identifizieren, mit dem Zwischenergebnisse bei der weiteren Verbreitung der sensorischen Informationen kodiert sind, sodaß selbst hier der Zugang zum Verständnis der eigentlichen Informationsverarbeitung in den darauffolgenden neuronalen Schaltkreisen versperrt bleibt. Bei höheren Tieren ist die interne neuronale Kodierung noch sehr viel komplexer, weil Informationen in verteilter Weise kodiert sind, also aufgespalten über sehr große Gruppen von Neuronen.

Ein Gedankenexperiment hilft uns vielleicht, die Schwierigkeit zu verstehen, aus experimentellen Daten der vorher geschilderten Art auf die Organisation der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn zu schließen. Nehmen wir einmal an, ein künstlicher Rechner der gegenwärtigen Generation wäre aufgrund eines time-warps versehentlich im Jahr 1920 ``vom Himmel gefallen'', und man hätte in einem Forschungslabor mittels aller damals bekannten Meßmethoden zu ermitteln versucht, wie die Informationsverarbeitung in dieser Maschine funktioniert. Mittels Messungen der Temperatur an verschiedenen Stellen dieser Maschine (welche Informationen liefern über den lokalen Energieverbrauch, analog zu PET und MRI beim Gehirn) und Messungen elektrischer Felder (analog zum EEG) hätte man vielfältige Aktivitätsmuster und deren Abhängigkeit von Eingaben über die Tastatur studieren können. Zusätzlich hätte man vielleicht auch das zeitliche Muster des Schaltens einzelner Transistoren (entsprechend dem Feuerverhalten einzelner Neuronen im Gehirn) ermitteln können. Trotzdem glaube ich nicht, daß man mittels solcher ``bottom-up Methoden'' die Struktur des Betriebssystems dieses Computers hätte ermitteln können. Vielmehr hätte man diese bottom-up Methoden ergänzen müssen durch top-down Modelle, bei denen man fortschreitend feinere und adäquatere Hypothesen über die Organisationsstruktur des Betriebssystems entwickelt, und in künstlichen Maschinen zur Informationsverarbeitung erprobt. In anderen Worten: man hätte die Funktionsweise des im Jahr 1920 vom Himmel gefallenen Rechners nur dann ermitteln können, wenn man begleitend zu den experimentellen Untersuchungen wesentliche Teile der Rechner-Theorie vorausgedacht und an entsprechend konstruierten Prototypen ausprobiert hätte.

Im Vergleich zu diesem Gedankenexperiment ist das Problem der Entschlüsselung der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns ungleich größer. Anstatt durch begrifflich strukturierte Design-Prinzipien von menschlichen Ingenieuren ist das menschliche Gehirn durch die Evolution, also im Laufe einer langen Kette von großteils zufallsgesteuerten trial-and-error Experimenten geformt worden. Daher ist es hier noch schwieriger als im vorhergehenden Gedankenexperiment, in direkter Weise experimentell zu ermitteln, wie Berechnungen strukturiert sind. Deshalb muß man auch im Bereich der Neurowissenschaften die bottom-up Methode durch top-down Ansätze ergänzen, bei denen man versucht die vielen bruchstückhaften aus Experimenten gewonnenen Erkenntnisse, Indizien und Vermutungen mittels theoretischer Modelle und Computersimulationen zu globalen Hypothesen über die Struktur neuronaler Berechnungen in konkreten Lebewesen zu kombinieren. Jede solche globale Hypothese kann gleichzeitig aufgefaßt werden als grober Bauplan für die Organisation eines (möglicherweise stark spezialisierten) künstlichen Rechners, und die Tragfähigkeit solcher Hypothesen kann eigentlich nur dadurch ermittelt werden, daß man solch einen neuartigen künstlichen Rechner baut.

Man sieht also, daß die Entschlüsselung der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn und die Entwicklung intelligenter Rechner Hand in Hand gehen. In der Tat sind alle im 2. Abschnitt diskutierten innovativen Ideen zur Entwicklung ``intelligenter'' Rechner aus dem Bemühen, Informationsverarbeitung in konkreten biologischen Nervensystemen zu verstehen (siehe [Arbib, 1995]), entstanden. Aus dem vermeintlichen Gegensatz zwischen unseren Erkenntnissen über das menschliche Gehirn und dem Entwurf von leistungsfähigen künstlichen Rechnern entsteht also bei genauerem Hinschauen eine Symbiose von zwei sehr verschiedenartigen Wissensbereichen, wobei Fortschritte im Verständnis des ersten Bereichs untrennbar verbunden sind mit innovativen technischen Ideen im zweiten Bereich. In anderen Worten: Je mehr wir von der Organisation der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn verstehen werden, umso ``gehirnartiger'' werden gleichzeitig die besten künstlichen Rechner werden, und umso weniger befremdlich wird die Vorstellung sein, daß das menschliche Gehirn ``nur'' ein Rechner sei.



Nachsatz: Ich möchte Peter Auer, Margot Goettsberger, Gerold Muhr und Thomas Natschläger für hilfreiche Kommentare zum ersten Entwurf dieses Aufsatzes danken.


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Heike Graf, 9/28/1999